Das Gehirn ist ein besonderer Muskel

Lina Beckmann hat mit ihrem "Laios"-Solo Mülheim im Sturm erobert. Woher rührt diese Kraft? Im Interview spricht die Schauspielerin über ihre Annäherung an den Text von Roland Schimmelpfenning und über den Einfluss des Publikums auf ihr Spiel.

Interview von Marlene Drexler

Schauspielerin Lina Beckmann spielt "Laios" als Solo © Katja Strempel

9. Mai 2024. Das Interview findet in der Lobby des Hotels statt, in dem das Team des Deutschen Schauspielhauses Hamburg untergebracht ist. Am Morgen nach dem Mülheimer Gastspiel von "Laios".

Lina Beckmann, Sie stammen aus dem Ruhrgebiet, sind in Hagen geboren und waren später auf der Schauspielschule in Bochum. Ist Mülheim also ein bisschen Heimspiel für Sie?

Schon. Aber es fühlt sich auch irgendwie anders an, weil ich so lange nicht hier gespielt habe. Grundsätzlich ist es aber auf jeden Fall ein Nach-Hause-Kommen.

Wie haben Sie die Vorstellung gestern in der Stadthalle erlebt?

Ich bin ja gerade das erste Mal mit "Laios" auf Gastspiel. In Heidelberg (Anm. d. Red.: "Laios" wurde auch zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen) war der Raum sehr klein mit 500 Plätzen und das war für mich schon komisch. In Hamburg passen 1.200 Menschen in den Saal. Das heißt, man muss immer gucken, wie sind die Räume, wie ist die Kraft – muss ich da was anpassen, Kraft reduzieren? Gestern fand ich das Publikum wahnsinnig konzentriert, mir schien, die Menschen haben sehr genau zugehört. Das hat mir gefallen.

Inwiefern ändert sich dadurch auch Ihr Spiel?

Der Abend kann dadurch schon sehr unterschiedlich ausfallen. Das Publikum ist bei "Laios" eigentlich wie ein Spielpartner für mich, der jedes Mal ein bisschen etwas anderes einfordert.

Sie beschreiben das Publikum als konzentriert. Am Ende gab es lange Standing Ovations. Und selbst beim Publikumsgespräch noch Bravo-Rufe.

Das ist natürlich ganz toll. Aber das Stück ist auch wirklich sehr besonders. Auch ich habe mich sehr schnell verknallt in den Text. Was ich immer wieder höre ist, dass der Text unglaublich starke Bilder im Kopf entstehen lässt. Ich denke, das ist es, was vielen solche Freude macht.

"Laios" bedeutet anderthalb Stunden Solo. Da braucht es ja wahnsinnig viel Konzentration. Wie bereiten Sie sich auf den Abend vor?

Ich gehe den gesamten Text durch. Immer, vor jeder Vorstellung. Ich muss mich ganz sicher fühlen, damit ich nicht Angst bekomme, den roten Faden zu verlieren. Und dann mache ich mich auch körperlich warm. Aber ich merke schon auch, dass diese Tour eine Herausforderung ist. Ich bin sehr müde. Andererseits ist es natürlich auch schön, weil man irgendwie eine andere Intensität erreicht, wenn man ein Stück oft spielt. Also es ist ein Kraftakt, aber auch eine tolle Erfahrung.

Der Text hat die Form eines Berichts. Es gibt also einen Erzähler, der die Handlung vorantreibt. Ich habe ihn auch als eigenständigen Charakter erlebt und mich gefragt, was Sie und Regisseurin Karin Beier für eine Fantasie zu dieser Person haben. Wer ist dieser Erzähler für Sie beide?

Also für mich war diese Frage wichtiger als für Karin Beier. Ich wollte auch wissen, wer ist diese Person und warum erzählt sie das alles? Meine Interpretation lautet: Es ist die Sphinx. Laios ist den antiken Quellen nach der Vater der Sphinx. Als er ausgesetzt wurde, hat er sie mit einem anderen Wesen – einer Schlange, glaube ich – gezeugt. Ich stelle mir vor, dass sie als Tochter die Geschichte ihres Vaters erzählt, als eine Art Rache-Geschichte. Ich glaube allerdings, für den Zuschauer ist das gar nicht so wichtig zu wissen, mir hilft es aber.

Roland Schimmelpfennig hat "Laios" als Monolog geschrieben. Das heißt, Sie haben kein Gegenüber auf der Bühne. Inwiefern ist das eine besondere Herausforderung? Wie gelingt es, die Spannung die ganze Zeit zu halten?

Ich hab da auch keinen Trick. Was ich sicher sagen kann ist, dass man die ganze Zeit dranbleiben muss. Man kann eben nicht mal zwischenzeitlich an eine Kollegin oder einen Kollegen abgeben. Trotzdem muss es Momente geben, in denen man sich runterdrosselt. Aber eben nie im Kopf. Kurz abschalten oder wegdriften geht nicht. Und natürlich schafft man es nicht immer gleichermaßen. Es gibt auch Vorstellungen, wo jemand in der ersten Reihe schläft. Das macht es dann schwieriger für mich. Ich versuche auf jeden Fall immer hellwach zu sein und zu erspüren, was das Publikum gerade braucht. Langweilen sie sich gerade? Sind sie überfordert? Muss ich langsamer werden oder schneller?

1 Laios Rittershaus 013Lina Beckmann in "Laios" © Monika Rittershaus

Hier in Mülheim kann man beobachten, dass diese Berichtsform ein Trend in zeitgenössischen Theatertexten ist. Wie sehen Sie als Schauspielerin diese Stücke, die keine klassischen Dialoge haben, sondern hauptsächlich aus Textflächen bestehen?

Für mich ist diese Zweiteilung nicht relevant. Für mich ist wichtig, wo man mit einem spielerischen Zugriff, wo man mit der eigenen Fantasie ansetzen kann. Die Form ist mir eigentlich egal. Ich gucke ganz naiv auf einen Text und frage: Was könnte man damit machen, wie kann man das erzählen?

Trotzdem haben Sie gestern beim Publikumsgespräch ganz klar gesagt, dass Sie eigentlich nicht gerne alleine auf der Bühne stehen. Dass Sie also dem Monolog immer ein Stück mit Spielpartnern vorziehen würden.

Ja, aber das hat für mich nichts mit dem Text zu tun. Ich denke, man könnte "Laios" auch zu fünft spielen. Ich bin irre stolz, das Stück alleine zu spielen. Dass das geht, dass ich das schaffe. Diese Erfahrung will ich nicht missen. Grundsätzlich mag ich am Theater aber die Teamarbeit. Das Zusammenspiel von Regie, Bühne, Dramaturgie, Spieler*innen und Gewerken. Wie das dann alles zusammenkommt – das finde ich immer wieder wahnsinnig berührend.

Bei der Rollenarbeit geht es auch darum, die Motive der Figur zu verstehen und zu durchdringen, was ihre Handlungen antreibt. In der griechischen Mythologie gelten ja Prinzipien des Zusammenlebens, die uns komplett fremd sind. Der Umgang miteinander ist von Gewalt und Brutalität durchzogen. Wie haben Sie sich den Figuren in "Laios" angenähert?

Für mich war das bei "Laios" ganz anders als zum Beispiel bei meiner Rolle Richard III. Da ging es darum, die Figur zu verstehen, sie auch zu beschützen und zu verteidigen. Und auch irgendwie zu rechtfertigen, was er macht. Bei "Laios" geht es eher um das Spielen und nicht das Verstehen. Die Figuren werden ja nur anskizziert und anzitiert. Für mich ging es in der Arbeit um das Motiv des Stückes und nicht die Motive der Figuren.

Um den Text nochmal etwas klingen zu lassen: Können Sie uns eine Ihrer Lieblingsstellen zitieren?

Es gibt eine Stelle, die ich sehr mag, die geht so:

"jetzt kann es natürlich auch sein,
dass Chrysippos nicht sechzehn war
oder siebzehn,
und auch nicht fünfzehn,
sondern zehn oder elf.
Oder acht oder neun.
Es kann sein,
es heißt,
dass Chrysippos und Laios
nicht flohen,
gemeinsam,
hey, du und ich,
sondern dass Laios
Chrysippos entführte
und dass der Junge
bitterlich weinte
auf dem rasenden Wagen,
und die Katze am Himmel, die
singt"

Das ist so eine Stelle, die das Spiel sehr bedient. Es erzählt die gesamte Bandbreite: Es könnte total schön, aber auch richtig, richtig schlimm gewesen sein. Und ich finde es toll, dass Roland Schimmelpfennig sagt, zwischen diesen so unterschiedlichen Überlieferungen kann ich mich nicht entscheiden. Und dann genau damit spielt. Daraus entsteht für das Publikum die Botschaft: Überlegt mal selbst, was Ihr meint, wie es gewesen ist.

Zuletzt noch die Frage, die sich viele Menschen stellen, die den Theaterbetrieb nur von außen kennen. Das Textbuch hat etwa 100 Seiten. Wie bekommen Sie das in Ihren Kopf? Haben Sie beim Auswendiglernen einen speziellen Modus Operandi?

Ich habe keinen Trick. Aber es klappt immer besser, wenn man den Text auch schon spielerisch abgeklopft hat. So ganz praktisch lerne ich auf dem Sofa oder beim Spazierengehen. Und ich glaube, das ist wie beim Yoga oder beim Marathon – wenn man etwas trainiert, geht das irgendwann schneller. Das Gehirn funktioniert da wie ein Muskel.

Grundsätzlich lerne ich eigentlich gerne Text. Ich finde es toll, auf dem Sofa zu sitzen und zu merken, die Seite geht jetzt schon gut. Oder: Das ist ein Scheißsatz, aber den habe ich jetzt geknackt.

 

Lina Beckmann, geboren 1981 in Hagen, war nach dem Schauspielstudium in Bochum am Schauspielhaus Bochum, am Schauspielhaus Zürich sowie am Schauspiel Köln engagiert. Mit der Kölner Intendantin Karin Beier wechselte sie 2013 ans Deutsche Schauspielhaus Hamburg. Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen zählen der Alfred-Kerr-Darstellerpreis des Berliner Theatertreffens, der Ulrich-Wildgruber-Preis, der Nestroy-Theaterpreis, der Faust-Theaterpreis und der Gertrud-Eysoldt-Ring. Zwei Mal wurde sie in der Umfrage des Fachblatts "Theater heute" zur Schauspielerin des Jahres gekürt.
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